Veröffentlicht am von Illa
Es ist eine wahrlich verrückte Welt: Bis zur Jahreswende 2021/22 konnte ich mir nie im Leben vorstellen, ein WELT-Onlineabo zu besitzen, und nun kann ich dank meines Abos dort hinter der der Bezahlschranke den Artikel „Wie die Linken lernten, Gehorsam und Überwachung zu lieben“ lesen. Darin heißt es einleitend: „Es ist bis heute kaum zu fassen, wie die Linken in der Corona-Krise versagt haben. Protest gegen staatliche Maßnahmen? Nö, das war ja rechts. Doch gegen die ‚Unsolidarischen‘ konnte kein Polizeieinsatz brutal genug sein. Eine Aufarbeitung ist dringend nötig.“
Ja, sie ist dringend nötig! Weiter geht es mit einer Beschreibung, die mir einmal mehr den Magen umdreht bei der Erinnerung an Ereignisse der letzten Zeit. Vieles von dem Beschriebenen habe ich miterlebt und die Erinnerung an manche Bilder ist immer noch überdeutlich. Was in diesen 3+ Jahren in der Linken, durch die Linke und von Linken getan wurde, hat mich mehr verzweifeln lassen als dieser aus dem Ruder laufende Staat in dieser durchdrehenden Welt.
„‚Wir impfen euch alle!‘, skandiert eine Truppe mit Antifa-Fahnen. Sie tragen FFP2-Masken an der freien Luft, unter ihresgleichen ein Erkennungszeichen. Auf ihren Plakaten verlangen sie mit Anspielung auf Bill Gates ‚Systemupgates‘.
Kaum zu glauben, aber wahr: Hier handelt es sich nicht etwa um einen militanten Arm des Pharmalobbyismus, sondern um Leute, die sich selbst als radikale Linke bezeichnen. In der Corona-Krise sprangen die Linken dem Staat beiseite. Kritik an den Maßnahmen, an staatlicher Überwachung, unkritischer Eintönigkeit der Medien oder Geheimverträgen mit Pharmakonzernen suchte man fast vergebens. Die Lockdown-Fanatiker von ‚Zero Covid‘ halten Impfschäden vermutlich noch immer für eine Verschwörungstheorie.
Es ist bis heute kaum zu fassen, wie sehr die Linken in der Corona-Krise als kritische Instanz versagt haben. Sie sind im Sitzen umgefallen, der aufrechte Gang wurde nicht einmal gewagt. Protest? Nö, das war ja rechts. Leute, die haufenweise Hausarbeiten über Foucault und Adorno geschrieben haben, wollten von Biopolitik und Ideologiekritik nichts mehr wissen. Wer sich zuvor als Staatsfeind Nr. 1 imaginierte, forderte nun plötzlich, die ‚wahren‘ Staatsfeinde von der Straße zu prügeln. Und wer zuvor im kleinsten Wort die unmenschliche Verwaltungssprache der Nazis nachhallen hörte, bekam bei der Hetze gegen die ‚Unsolidarischen‘ den Mund nicht mehr zu.
Und so ging es weiter: Als es um die katastrophalen Auswirkungen der Lockdowns ging, haben die Linken den Globalen Süden flugs von der Landkarte gestrichen. Es braucht von dort wohl etwas ‚israelkritische‘ Kunst, um die Aufmerksamkeit der akademischen Großstadtlinken wiederzugewinnen. Angesichts des ‚Killervirus‘ lernten selbst die radikalsten No-Border-Linken auf einmal die Grenzschließungen lieben. Blöd für Menschen ohne Papiere, dass die härteste Tür der Stadt plötzlich die des nächsten Autonomen Zentrums war – mit rigoroser Impf‑, Test- und Ausweispflicht unterm ‚Refugees Welcome‘-Banner.
Kurz: Die ideologischen Staatsapparate haben gerufen – und die Linke, wo sie nicht bereits Teil davon war, antwortete so begeistert, dass es selbst dem Verfassungsschutz gelegentlich unheimlich wurde. Der Reflex, den Armen und Unterdrückten beizuspringen, wurde durch die Rede von der ‚Solidarität‘ getriggert, doch sprang man stattdessen der Regierung, den staatsnahen Medien und den mächtigsten Pharmakonzernen bei. Die Armen mussten schauen, wo sie bleiben. Von der Laptop-Klasse der akademischen Linken bekamen sie nicht mehr als ein herzliches ‚Stay at home!‘ – oder den Auftrag, als urbanes Dienstboten-Proletariat das Essen und die Einkäufe zu liefern. Aber bitte nur mit Abstand und Maske!
Die Linke fühlte sich als Team Solidarität, Vernunft, Wissenschaft. Nur dass die Solidarität allein denen galt, die sich so verhielten wie man selbst. Und dass die Vernunft schlicht preußischen Gehorsam meinte – und die Wissenschaft mehr einem Wahrheitsministerium glich. ‚Drosten Ultras‘ nannten sich manche Linke gar: ‚Dritte Halbzeit‘ statt Argumente. Mit dem neuen Hauptfeind, dem ‚Schwurbler‘, diskutierte man nicht. Bei der Jagd auf Schwurbler wurde man plötzlich munter: Wer nicht das tägliche Vaterunser mit Inzidenzen und Impfquoten aufsagte, war bereits verdächtig. Und wer auf einer Demonstration in bester linker Tradition ‚Kein Gott, kein Staat, kein Zertifikat!‘ rief, konnte schnell mehr als böse Blicke abbekommen. […]
Mit Corona wurde schnell klar, dass hinter den Glaubenssätzen der offiziellen Linken nichts steckt, vor allem keine Haltung. Die Linke spielt die Moralpolizei in einer moralisch bankrotten Gesellschaft. Ihre Worte sind wie Blumen, die jegliche Ketten dekorieren. Mit dem richtigen ‚Wording‘ und ‚Framing‘ werden die Parolen jeder noch so repressiven oder regressiven Politik angeglichen. Sie hat nun auch ihren eigenen ‚Extremismus der Mitte‘, ihr Katechismus ist die Kritische-Theorie-Parodie ‚Gekränkte Freiheit‘ von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger. Ein Milieu formiert sich im Kampf gegen den ‚libertären Autoritarismus‘. Das Erstaunliche ist, dass man in der Linken nun wieder akademisch-verquast von ‚strukturellen Ausschlüssen‘ faselt, während über Ausschluss und Zwang in der Corona-Zeit weiterhin tapfer geschwiegen wird. Aufarbeitung? Man muss schon suchen, um die Abweichler des Schweigekartells zu finden.“
Fündig wurde der Autor des Artikels im kürzlich erschienenen Sammelband „Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom“. In seinem Vortrag anlässlich der Präsentation des Buches im Rahmen der Kritischen Literaturtage 2023 in Wien sagte dessen Herausgeber Andreas Urban:
„Letztlich ging es uns mit dem Sammelband darum – und das ist es auch, was alle Beiträge trotz aller inhaltlichen und zum Teil auch weltanschaulichen Unterschiede eint –, zu einer kritischen Aufarbeitung der Geschehnisse der letzten drei Jahre beizutragen. Das erscheint uns umso wichtiger, als das Nachspiel der Corona-Krise geprägt ist von Ignoranz, Debattenverweigerung und dem Hintertreiben der Aufklärung. Wie eine heute allenthalben auf die politische Tagesordnung gesetzte ‚Aufarbeitung‘ der Corona-Krise aussieht, kann symptomatisch an der erst vor wenigen Tagen von der österreichischen Regierung medienwirksam angekündigten Pandemie-Aufarbeitung abgelesen werden. Da steht das Ergebnis der Aufarbeitung im Grunde schon im Vorhinein fest: Im Prinzip alles richtig gemacht, vielleicht manchmal ein bisschen übertrieben, vor allem aber ganz schlecht kommuniziert. Als eigenen Punkt sieht die Aufarbeitung, weil das besonders dringend kritisch aufgearbeitet werden muss, eine Untersuchung der in Österreich anscheinend so weit verbreiteten ‚Wissenschaftsskepsis‘ vor. Es sei an dieser Stelle davon abgesehen, dass schon der Begriff ‚Wissenschaftsskepsis‘, selbst nach den alles andere als unproblematischen Idealen des akademischen Betriebs, ein beredtes Zeugnis ablegt von dem grob unwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis, das heute in der Öffentlichkeit wie auch in der Wissenschaft selbst vorherrscht. Dasselbe gilt übrigens auch für die heute so häufig strapazierte Rede von ‚der Wissenschaft‘, der wir folgen und der wir vertrauen sollen. ‚Die Wissenschaft‘ gibt es nicht, denn Wissenschaft besteht im Diskurs und im Widerstreit der Meinungen, an dessen Ende vielleicht so etwas wie ein wissenschaftlicher Konsens steht, dies aber auch nur solange, bis neue Erkenntnisse und Befunde diesen wieder in Frage stellen. Und die Voraussetzung dafür und sozusagen das Wesen des wissenschaftlichen Denkens ist eben die Skepsis – andernfalls könnte man ja einfach glauben auch. Dies ist jedenfalls, in sehr knapper Zusammenfassung, das wissenschaftliche Ideal, auf das sich der Wissenschaftsbetrieb im Allgemeinen so gerne beruft. Praktisch gültig ist es ohnehin nicht, auch schon lange vor Corona nicht. Gleichwohl ist es verräterisch, wenn bis hinein in wissenschaftliche Kontexte von ‚Wissenschaftsskepsis‘ und vom ‚Glauben an die Wissenschaft‘ geredet wird. Das Wissenschaftsverständnis, das sich dahinter verbirgt, hat mit Wissenschaft nichts zu tun, sondern wird mit einem anderen Wort weit treffender bezeichnet: Szientismus – Wissenschaft als Glaubenssystem. Und gegenüber so einer ‚Wissenschaft‘ ist Skepsis natürlich erst recht angebracht.
[…] Man sieht, dass es bei der vollmundig angekündigten Aufarbeitung der Corona-Krise um Aufarbeitung genauso wenig geht, wie es dabei um Wissenschaft geht. Man will es im Nachhinein eigentlich gar nicht so genau wissen, denn man hat ja nur getan, was ‚vernünftig‘ war und getan werden ‚musste‘. Resultat dieser ‚Vernunft‘ war eine der bizarrsten Episoden der jüngeren Geschichte. Und wenn diese nicht bewusst und kritisch verarbeitet wird, droht sie sich zu wiederholen. Unser Sammelband versucht, wie gesagt, das seine zu dieser kritischen Aufarbeitung beizutragen, und ich hoffe und glaube, dass uns und vor allem natürlich unseren Autorinnen und Autoren dies durchaus gelungen ist und das Buch dazu einlädt, die letzten drei Jahre aus einer nicht nur zeitlichen, sondern auch intellektuellen Distanz kritisch Revue passieren zu lassen.“
Eigentlich hatte ich sie bei meiner Suche nach Hoffnungsschimmern in puncto Aufarbeitung fast vergessen, oder vielleicht verdrängt, um meinen Magen zu schonen: die Linken. Nun freue ich mich umso mehr, wenn sich einige von ihnen mit diesem expliziten Ziel wieder in Erinnerung bringen. In der Linken ist es mindestens so nötig wie in der Gesellschaft im Ganzen, zu verstehen, was unter dem Vorwand „Corona“ geschehen ist und der Wunsch vieler ist offensichtlich, sich damit überhaupt nicht auseinanderzusetzen oder aufkeimende Zweifel mitsamt dem unangenehmen Gefühl des Versagens zu ignorieren. Ich verstehe, dass es für Mitläufer und Mittäter schwer ist und weiß inzwischen auch, dass das ebenso für die Opfer gilt, aber sicher ist: „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it“ (George Santayana).
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