Ein Ende mit Schrecken? Krieg in der Ukraine

Wann und warum hat Russland beschlossen, Krieg gegen die Ukraine zu führen? Auf der einen Seite stand eine vermutlich schon länger zurückliegende Grundsatzentscheidung. Mit ihr zog man ein militärisches Eingreifen ernsthaft in Erwägung, man betrachtete es als eine Handlungsoption, von der man bei Bedarf Gebrauch machen konnte. Auf der anderen Seite stand die Entscheidung, es tatsächlich zu tun, also einen konkreten Einsatzbefehl zu geben. Während die Grundsatzentscheidung einen mehrjährigen Vorlauf hatte und auf einem rationalen Kalkül basierte, fiel die konkrete Einsatzentscheidung kurzfristig, einige Tage oder allenfalls wenige Wochen vor dem 24. Februar 2022. Sie erfolgte unter enormem Stress und war unverkennbar emotional gefärbt.

ULRICH TEUSCH, 8. Mai 2023

In meinem Multipolar-Artikel „Die Putin-Interviews und der Krieg“ vom 26. März 2023 habe ich mich eingehend mit den Gesprächen beschäftigt, die der US-amerikanische Filmregisseur Oliver Stone zwischen 2015 und 2017 mit dem russischen Staatspräsidenten geführt hat. Ich habe versucht, die Diskrepanz herauszuarbeiten zwischen den Einsichten, Überzeugungen und Maximen, die Putin in den Interviews offenbarte, und dem, was er heute im Konflikt mit der Ukraine und dem Westen praktisch tut. Und ich hatte angekündigt, in einem zweiten Artikel nach möglichen Gründen für diese Diskrepanz zu suchen und den mutmaßlichen Sinneswandel Putins zu erklären.

Auf meinen Text trafen zu meiner Überraschung recht viele Zuschriften ein. Sie waren durchweg kritisch bis ablehnend, auch Gegenpositionen wurden formuliert. Manchmal wurde ich von Leserinnen und Lesern direkt, persönlich angesprochen und dazu ermuntert, die Kritiken konstruktiv aufzunehmen, über meine eigenen Bewertungsmaßstäbe und unausgesprochenen Überzeugungen nachzudenken und diese offenzulegen, mich also um Transparenz zu bemühen und auf einen Diskurs einzulassen.

Auch wenn es für mich ungewohnt ist – dazu bin ich gerne bereit. Diese Bereitschaft bringt es allerdings notwendigerweise mit sich, dass mein Beitrag nun formal und inhaltlich einen etwas anderen Charakter annimmt als ursprünglich geplant. Weil diskursiv, wird er länger ausfallen, weniger strukturiert und stringent, weniger kompakt sein. „Diskursiv“ heißt für mich auch immer: offen, vorläufig, unabgeschlossen, work in progress. Die Kritiker werde ich mit den folgenden Ausführungen womöglich nicht zufriedenstellen können und ihnen vielleicht sogar neue Angriffsflächen bieten – was aber ganz in meinem Sinn wäre: denn ich will nicht in erster Linie andere von meinen Ansichten überzeugen, sondern zu einer reflektierten Urteilsbildung anregen und beitragen.

Drei Punkte vorab

Es würde den Rahmen dieses Artikels endgültig sprengen, wollte ich auf alle Einzelargumente eingehen, die in den Leserkommentaren vorgetragen wurden. Dennoch möchte ich vorab – bevor ich zum eigentlichen Thema komme – drei Punkte aus den Kommentaren kurz aufgreifen:

Punkt eins: Ich hatte in meinem Artikel festgestellt, Putin habe in den Stone-Interviews militärische Gewalt als Problemlöser in der Ukraine kategorisch ausgeschlossen. Helene Bellis widerspricht mit dem Hinweis, Putin habe einen Krieg in der Ukraine lediglich als „Worst-Case-Szenario“ bezeichnet. Ich hatte mich bei meiner Aussage allerdings auf ein anderes Putin-Zitat bezogen. Dort sagte er mit Blick auf die Eventualität eines Kriegs: „Es würde nur mehr Opfer geben, aber das Fazit wäre kein anderes als heute. Konflikte dieser Art, also Konflikte wie im Donbass, lassen sich nicht mit Waffen lösen. Da muss es schon direkte Gespräche geben.“ Eine eindeutige Aussage, wie ich finde.

Punkt zwei: Ulrich Karrasch schreibt, Wolodymyr Selenskyj habe im Februar 2022 auf der Münchner Sicherheitskonferenz – angeblich unter „standing ovations“ der Versammelten – in Aussicht gestellt, dass sich die Ukraine nicht länger an das Budapester Memorandum von 1994 gebunden fühlen und sich wieder Atomwaffen zulegen könnte. Ich kann nur dringend empfehlen, den Text von Selenskyjs Rede nachzulesen oder sich das entsprechende Video anzuschauen. Selenskyj beklagte, das Budapester Memorandum habe der Ukraine keine wirkliche Sicherheit gebracht; er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO sich als wirksamer erweisen werde. Und er kündigte eine diplomatische Initiative an: Er wolle die am Budapester Memorandum beteiligten Mächte zu einem Treffen zusammenrufen und einen letzten Versuch unternehmen, das Abkommen zu retten.

Punkt drei: Der russische Krieg ist und bleibt aus meiner Sicht eindeutig völkerrechtswidrig. Russland ist von niemandem angegriffen worden und hat das auch nie behauptet. Und Präventivkriege sind im Völkerrecht nicht vorgesehen. Alfred de Zayas ist ein renommierter Völkerrechtler, der sich in seiner Kritik an westlicher Geopolitik und in seinem Verständnis für die Situation Russlands von kaum jemandem übertreffen lässt. Doch auch für ihn unterliegt es keinem Zweifel, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig ist. Ich verweise an dieser Stelle der Einfachheit halber auf seine Argumentation, werde aber an späterer Stelle auf völkerrechtliche Aspekte noch ausführlicher zurückkommen.

Russophob und russophil

Und damit zum eigentlichen Thema! Zunächst und grundsätzlich: Ich bedarf nicht der Belehrung, dass der Westen in Sachen illegaler Kriege und Kriegsverbrechen, in Sachen Täuschung, Heuchelei und Doppelstandards seit dem Ende des Ost-West-Konflikts weit mehr auf dem Kerbholz hat als Russland. Was speziell die westliche Führungsmacht angeht, glaube ich zudem, dass man das Wesen US-amerikanischer Geopolitik weniger in der Sorge um eine „regelbasierte Ordnung“ als im Führen endloser Kriege zu suchen hat. Das entschuldigt und rechtfertigt jedoch nichts von dem, was Russland seit dem 24. Februar 2022 getan hat und weiterhin tut. Um Oliver Stone zu zitieren: „A dozen wrongs don’t make a right.“ Im Übrigen habe ich in meinem Artikel zu den Stone-Interviews nicht das Handeln Putins mit dem des Westens verglichen, sondern es an den von ihm selbst entwickelten Kriterien gemessen. Und natürlich auch, wie ich gern zugebe, an meinen eigenen Maßstäben.

Was zur Frage führt: Haben meine Grundüberzeugungen und Vorurteile in meine Analyse hineingespielt und sie möglicherweise in eine bestimmte Richtung gedrängt? Das haben sie ganz sicher getan. Sie haben es getan, obwohl ich mich in meiner Arbeit redlich bemühe, etwaige Verzerrungen zu erkennen und auszuschließen. Deshalb stelle ich mir beinahe täglich und in unterschiedlichen Zusammenhängen eine Frage (die sich, wie ich finde, jeder publizistisch Tätige von Zeit zu Zeit stellen sollte): Warum glaube ich, was ich glaube? Das heißt: Ich begebe mich immer wieder auf den Prüfstand. Aus Gründen der Selbstkontrolle nehme ich deutlich mehr Informationen aus Quellen auf, von denen ich weiß, dass sie meine Ansichten nicht teilen, als von solchen, mit denen ich in der Regel übereinstimme. Ich lebe und arbeite also nicht in einer Echokammer oder Filterblase.

Stefan Korinth hat jüngst in einem Multipolar-Artikel eindrucksvoll demonstriert, wie tief russophobe Stereotypen und Vorurteile ins westliche (Unter-) Bewusstsein eingegraben sind. Es gibt aber auch das Gegenteil, nämlich russophil eingestellte Menschen (ich zähle mich zu ihnen), die von diesem großen Land und seiner ethnischen und religiösen Vielfalt fasziniert sind oder eine besondere Zuneigung zu dessen kulturellen und künstlerischen Leistungen hegen. Eine solche Affinität kann das Urteil – auch über aktuelle politische Vorgänge – ebenso beeinflussen wie es russophobe Aversionen können, wenn auch in gegenteiliger Richtung. Man muss sich dann immer wieder disziplinieren oder selbstkritisch befragen. Habe ich aus Sympathie zu großzügig geurteilt? Oder auch: Habe ich übermäßig kritisch geurteilt, um nicht zum Opfer meiner positiven Voreingenommenheit zu werden?

Russland im Innern

Was die inneren Verhältnisse Russlands seit dem Ende der Sowjetunion angeht, unterscheide ich eine analytische und eine normative Ebene. Auf analytischer Ebene bin ich der Auffassung, dass man die Erwartungen an die politische, soziale und ökonomische Entwicklung Russlands nicht zu hoch schrauben sollte. Nach Jahrhunderten zaristischer Autokratie, nach sieben Jahrzehnten kommunistischer Diktatur, nach der für viele Russen traumatischen Jelzin-Regentschaft war nicht zu erwarten, dass sich das komplexe russische Riesenreich innerhalb weniger Jahre in einen lupenreinen demokratischen und sozialen Rechtsstaat verwandeln würde. In der langen Putin-Ära schien mir jedoch vieles – vor allem im ersten Jahrzehnt – in die richtige Richtung zu gehen.

Auf normativer Ebene sieht es anders aus. Ich bin weit davon entfernt, im heutigen Russland ein für mich attraktives gesellschaftspolitisches Modell zu sehen. Entsprechend groß ist meine Distanz – auch zu Putin. Ich halte zwar nichts davon, ihn nach Mainstream-Art zu dämonisieren, kann aber auch nicht nachvollziehen, dass er sich außerhalb des Mainstreams – nicht zuletzt links davon – teils hoher Sympathiewerte erfreut. Putin ist aus meiner Sicht ein autoritärer, konservativer, pro-kapitalistischer Machtpolitiker, wobei die autoritäre Komponente nun, da sich Russland im Krieg befindet, immer stärker zur Geltung kommt. (Um die Ukraine steht es übrigens keinen Deut besser, im Gegenteil. Sie droht als „failed state“ zu enden.)

Realismus

Damit wechsle ich zur internationalen Politik, um die es ja im Krieg in der Ukraine vorrangig geht. Auch hier unterscheide ich eine analytische von einer normativen Ebene. In analytischer Hinsicht begreife ich mich als Realist – Realist nicht im Alltagsverständnis, sondern im Sinne der „realistischen Denkschule“ in der Politikwissenschaft. Deren prominentester und einflussreichster Vertreter ist derzeit der US-Amerikaner John Mearsheimer.

Aus realistischer Sicht ist das internationale System souveräner Staaten „anarchisch“. Oberhalb der Staaten existiert keine Instanz, die diesen gegenüber weisungsbefugt wäre (zum Beispiel eine Weltregierung). Anders als im innerstaatlichen Bereich fehlt auf dem internationalen Feld ein Gewaltmonopol. Das heißt: Im Rahmen des internationalen Systems sind die Staaten in letzter Instanz auf sich selbst angewiesen. Sie verfolgen ihre nationalen Interessen. Sie tun dies oft auf Kosten anderer Staaten. Sie rüsten zum Beispiel auf und nötigen damit ihre Konkurrenten oder Gegner zur Nachrüstung. Sie akkumulieren Macht, von der sich andere Staaten bedroht fühlen und also Gegenmacht bilden. Es entstehen Sicherheitsdilemmata. Einzelne Staaten streben nach regionaler oder globaler Hegemonie, während andere sich bemühen, das Gleichgewicht zu erhalten oder wieder herzustellen. Immer wieder versuchen Staaten, ihre Interessengegensätze durch Krieg zu lösen.

Trotz der anarchischen Grundkonstellation sind im Zusammenleben der Staaten im Lauf der Jahrhunderte Fortschritte erzielt worden beziehungsweise Zivilisierungstendenzen erkennbar. Es hat sich eine „Staatengesellschaft“ herausgebildet (eine „International Society“, wie man vor allem in der britischen Politikwissenschaft gerne sagt). Die Staatengesellschaft basiert auf gemeinsamen Werten und Prinzipien, die nach und nach Grenzen überschritten und schließlich globale Anerkennung gefunden haben (zum Beispiel in Gestalt von Menschenrechts-Deklarationen). Die Staatengesellschaft hat ein immer umfassenderes und differenzierteres Völkerrecht ausgebildet, eine Vielzahl internationaler Institutionen und Organisationen geschaffen, sie hat Verträge geschlossen und Vertragstreue bewiesen, ein System der Diplomatie etabliert, zahlreiche Mechanismen der Konfliktregulierung erdacht und erprobt. Auch wenn Staaten weiterhin prinzipiell unter anarchischen Bedingungen existieren, ist es ihnen doch gelungen, sich selbst zu organisieren, positive Entwicklungen in Gang zu setzen und diese zu sichern.

Russland international

Bis zum 24. Februar 2022 war ich der Überzeugung, dass Russland diese Ausprägung der Staatengesellschaft im Großen und Ganzen nicht nur unterstützt, sondern sie auch gegen Gefährdungen verteidigt: insbesondere gegen die unilateralen, global-hegemonialen Bestrebungen der USA und des Westens, gegen illegale Kriege und Völkerrechtsbrüche, gegen Versuche der Destabilisierung von Staaten, gegen die einseitige Aufkündigung wichtiger Verträge und die Erosion internationaler Organisationen. Russland tat dies natürlich nicht zuletzt aus Eigeninteresse. Denn das Land braucht, so schien mir, friedliche, stabile, zuverlässig kalkulierbare, multipolare Verhältnisse. Es braucht diese Verhältnisse vor allem, um seine inneren Ziele erreichen zu können. Unter Bedingungen der Unsicherheit und Bedrohung kann es sich nur schlecht entwickeln und kaum prosperieren.

Dies ist ein wesentlicher Grund, warum der große weltpolitische Antagonist Russlands – also die USA – vor allem als anti-russischer Störfaktor agiert. Einen geradezu paradigmatischen Stellenwert kann man hier einem umfangreichen, feindseligen Dokument aus dem Jahr 2019 zuschreiben. Darin entwickelte die Pentagon-nahe Rand Corporation mit diabolischer Kreativität eine Unzahl konkreter Vorschläge und Ideen, alle dazu gedacht, Russland im Innern und nach außen in Schwierigkeiten zu bringen. Kein Gedanke wurde an Möglichkeiten des Ausgleichs, der Verständigung, der Kooperation verschwendet. Es handelte sich um Anti-Diplomatie in Reinkultur.

Aus rein analytischer Perspektive konnte ich das Verhalten und Handeln Russlands in der Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Ende des ersten Kalten Kriegs meist ohne große Probleme nachvollziehen. Trotzdem habe ich es nicht immer gutgeheißen. Hier kommt die normative Dimension ins Spiel. Während ich auf analytischer Ebene einem realistischen Ansatz folge, verstehe ich mich auf normativer Ebene als Pazifist – und zwar als Pazifist im Sinne der UNO-Charta.

Friedenspflicht und Gewaltverbot

Die UNO-Charta ist etwas anderes als die gegenwärtig vielzitierte dubios-diffuse „regelbasierte Ordnung“. Wenn irgendwo verbindliche Regeln für das Leben und Zusammenleben von Völkern, Nationen, Staaten fixiert sind, dann doch wohl in diesem aus dem Jahr 1945 stammenden Dokument – sowie in einigen anderen völkerrechtlich verbindlichen Abkommen, wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (beide aus dem Jahr 1966).

Die UNO-Charta ist gleichsam die Grundlage aller Grundlagen. Sie legt ihren Mitgliedsstaaten eine Friedenspflicht auf und untersagt die Anwendung und Androhung von Gewalt. Und zwar in dieser Reihenfolge! Also, über allem steht die Friedenspflicht. Dann kommt das Gewaltverbot. Und noch einmal: Das Gewaltverbot beginnt nicht erst mit der Anwendung, sondern schon mit der Androhung von Gewalt.

Verletzungen des (Völker-) Rechts

In vielen Leserkommentaren zu meinem Beitrag vom 26. März wurden rechtliche beziehungsweise völkerrechtliche Fragen angesprochen. Wer den Ukraine-Konflikt unter diesem Aspekt betrachtet, läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren. Denn hier wurde und wird (Völker-) Recht permanent verletzt. Rechtswidrig beziehungsweise völkerrechtswidrig war schon die westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine im Vorfeld des Staatsstreichs 2014, war der Staatsstreich als solcher, waren die russischen Interventionen im Donbass, war die Missachtung des vom UNO-Sicherheitsrat bestätigten Minsker Abkommens, waren die Verletzungen des Waffenstillstands entlang der Kontaktlinie. Rechtswidrig beziehungsweise völkerrechtswidrig war und ist der russische Einmarsch in die Ukraine, war und ist die russische Annexion von vier Donbass-Provinzen (nachdem man zwei von ihnen kurz vorher noch als unabhängige Staaten anerkannt hatte), war und ist die Drohung mit Nuklearwaffen.

Äußerst fragwürdig ist auch das westliche Sanktionsregime. Es scheint mittlerweile völlig in Vergessenheit geraten zu sein, dass der UNO-Sicherheitsrat für die Verhängung von Sanktionen zuständig ist, unilaterale Zwangsmaßnahmen folglich gegen die Charta verstoßen. Zudem enthalten die westlichen Sanktionspakete schier unglaubliche Einzelmaßnahmen, etwa das Einfrieren der Auslandsvermögen russischer „Oligarchen“ und die geplante Zweckentfremdung der Mittel zum Wiederaufbau der Ukraine.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Ukraine das Recht hat, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Und andere Staaten dürfen ihr militärischen Beistand leisten. Aber was hat es noch mit der Treue zum Völkerrecht zu tun, wenn westliche Länder den Krieg in der Ukraine zu ihrem machen, ihn manichäisch überhöhen als Entscheidungsschlacht zwischen Demokratie und Autoritarismus, wenn sie eigene Kriegsziele definieren (die Ukraine müsse gewinnen, Russland müsse verlieren, mindestens nachhaltig geschwächt, am besten ruiniert, vielleicht sogar in kleinere Einheiten zerschlagen werden); wenn sie all dies durch zügellose und gleichfalls rechtswidrige Kriegspropaganda begleiten (lassen); und wenn sie sich nicht – wie es ihre (Friedens-) Pflicht wäre – um ein baldiges Ende des Kriegs bemühen, also ihr Möglichstes tun, um einen Waffenstillstand zu erreichen, einen Verhandlungsprozess in Gang zu bringen, sondern alle einschlägigen Bemühungen bislang sogar hintertrieben haben? Es ist durchaus vorstellbar, dass der Krieg längst zu Ende wäre, wenn die Vermittlungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett sowie das Engagement der Türkei nicht von westlichen Kräften – allen voran Boris Johnson – torpediert worden wären. Die bewusste, absichtliche Verlängerung und Intensivierung des Kriegs hat diesen in seinem Charakter verändert.

Und die Krim?

Die Krim-Problematik liegt etwas komplizierter. Im Juli 2021 veröffentlichte Wladimir Putin einen Aufsatz unter dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Kurz danach stimmten in einer Umfrage der „Rating“-Group unter der ukrainischen Bevölkerung immerhin 41 Prozent der Befragten der Aussage zu, „dass Russen und Ukrainer eine Nation sind und demselben historischen und geistigen Raum angehören“ (55 Prozent widersprachen). Vor diesem Hintergrund könnte man sarkastisch sagen, dass es doch im Grunde gleichgültig wäre, ob die Krim zur Ukraine oder zu Russland gehöre oder souverän sei. Aber solche Überlegungen sind müßig, denn auch in diesem Punkt hat der Krieg alles verändert. Die feindselige Verbissenheit auf beiden Seiten lässt keine Kompromissbereitschaft mehr zu.

Was die völkerrechtliche Seite der Krim-Frage angeht, orientiere ich mich an einer Rechtsauffassung, wie sie kürzlich der frühere serbische Ministerpräsident Tadic vorgetragen hat. Danach existiert im Völkerrecht sowohl der Grundsatz der territorialen Integrität als auch der (potentiell konkurrierende) Grundsatz des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Beide sind allerdings Tadic zufolge nicht gleichwertig; die territoriale Integrität steht zuoberst. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung wurde eingeführt mit Blick auf die Unabhängigkeitskämpfe von Kolonien oder die Befreiung militärisch besetzter Gebiete. Es deckte aber nicht ohne weiteres das Recht auf Sezession ab. Tadic wirft dem Westen vor, dass er mit der Sezession des Kosovo und dem anschließenden (nicht ganz ohne äußeren Druck erfolgten) Kosovo-Spruch des Internationalen Gerichtshofs einen Präzedenzfall geschaffen habe, auf den sich Russland später bezüglich der Krim berufen konnte. Die Fälle Kosovo und Krim unterscheiden sich zwar in mancherlei Hinsicht, aber sie gehören, völkerrechtlich betrachtet, in dieselbe Kategorie.

Was heißt hier „(un-) provoziert“?

Von westlicher Seite wird ohne Unterlass behauptet, der russische Angriff auf die Ukraine sei „unprovoziert“ erfolgt. Das trifft nicht zu. Die Berücksichtigung provokatorischer Momente kann einiges zur Erklärung des Angriffs beitragen (ändert aber nichts an seiner Völkerrechtswidrigkeit).

Interessant ist die Frage, was genau unter „provoziert“ beziehungsweise „nicht unprovoziert“ zu verstehen ist. Eine Möglichkeit: Jemand kann zielgerichtet provozieren, bezweckt also etwas mit der Provokation. Damit er sein Ziel erreicht, muss sein Gegenüber mitspielen, sich also zu einer bestimmten Handlung provozieren lassen. Der Provozierte darf sich im Nachhinein die selbstkritische Frage stellen, ob er mit seiner Reaktion dem Provokateur möglicherweise einen Gefallen getan hat und in eine von diesem aufgestellte Falle getappt ist. Auf unser Thema bezogen: Ist Russland in dieser spezifischen Weise provoziert worden? Ist es dem Westen in die Falle gegangen?

Meine erste These, die ich an späterer Stelle dieses Texts ausführlicher begründen werde, lautet: Der Westen hat Russland provoziert, aber er hat nicht zielgerichtet provoziert. Die Provokationen bezweckten nicht Russlands Einmarsch in die Ukraine. Insofern ist Russland auch in keine westliche Falle gegangen.

Zwischenbemerkung: In den vergangenen Wochen habe ich des öfteren Gespräche erlebt, in denen von ein und demselben Diskutanten zunächst gesagt wurde, Russland sei provoziert worden. An anderer Stelle der Diskussion warb dieselbe Person dann um Verständnis für die russische Kriegsentscheidung und legte nahe, dass sie alternativlos, letztlich unausweichlich, im Grunde genommen also richtig gewesen sei. Dieser Sichtweise zufolge hätte der Westen Russland zu einer richtigen und notwendigen Entscheidung provoziert. – Ich halte das für eher unwahrscheinlich.

Wann und warum hat Russland die Entscheidung getroffen, in der Ukraine militärisch zu intervenieren? Hier bedarf es einer differenzierenden Antwort. Auf der einen Seite stand eine vermutlich schon länger zurückliegende Grundsatzentscheidung. Mit ihr zog man ein militärisches Eingreifen ernsthaft in Erwägung, man betrachtete es als eine Handlungsoption, von der man bei Bedarf Gebrauch machen konnte. Auf der anderen Seite stand die Entscheidung, es tatsächlich zu tun, also einen konkreten Einsatzbefehl zu erteilen. Während die Grundsatzentscheidung einen längeren, mehrjährigen Vorlauf hatte und auf einem rationalen Kalkül basierte, fiel die konkrete Einsatzentscheidung kurzfristig, einige Tage oder allenfalls wenige Wochen vor dem 24. Februar 2022. Sie erfolgte unter enormem Stress und war unverkennbar emotional gefärbt.

Damit komme ich zu meiner zweiten These: Wenn es zutrifft, dass die russische Entscheidung, von der grundsätzlichen Option Gebrauch zu machen und „es tatsächlich zu tun“, kurzfristig und in einer emotionalen Ausnahmesituation fiel, bedeutet dies im Umkehrschluss: Bis wenige Tage oder Wochen vor dem 24. Februar 2022 hätte die Möglichkeit bestanden, den Krieg noch zu verhindern. Der Westen hat es (bewusst oder unbewusst) versäumt, diese Chance zu nutzen. Er hat – von einer gewichtigen Ausnahme abgesehen, auf die ich etwas später zu sprechen kommen werde – nichts getan, um den Krieg mit diplomatischen Mitteln abzuwenden. Er beließ es bei Drohungen…..

mehr dazu bei:

https://multipolar-magazin.de/artikel/ein-ende-mit-schrecken-krieg-in-der-ukraine

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