29. März 2023
von Thomas Fazi
Ein neuer Sammelband von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft nimmt die Folgen des Krieges in der Ukraine in den Fokus. Beiträge verschiedenster Autoren, etwa Florian Warweg, Andrea Komlosy oder Olga Baysha, bewerten die Hintergründe des Konflikts. TKP veröffentlicht eine gekürzte Version des Beitrags von Thomas Fazi, der die autoritäre Wende im Westen analysiert.
Während der vergangenen zwanzig Jahre befand sich der Westen in einem quasi permanenten Krisenzustand : Auf die globale Terrorismuskrise nach dem 11. September 2001 folgten die Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008, die Pandemiekrise und, gerade als letztere abzuflauen schien, die militärische Krise in der Ukraine – und all dies vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden Klima- und Umweltkrise. Ich spreche ausdrücklich vom Westen und nicht von der Welt als Ganzes. Damit will ich nicht die Erfahrungen der nicht-westlichen Teile der Welt außer Acht lassen – die oft viel stärker unter diesen Krisen gelitten haben als ihre westlichen Pendants. Die offensichtlichsten Beispiele sind jene Länder, die im sogenannten »globalen Krieg gegen den Terror« des Westens ins Visier genommen wurden, und jetzt natürlich die Ukraine selbst. Aber die Erzählung von der Dauerkrise ist eine spezifisch westliche Erfahrung. Zudem ereigneten sich viele der fraglichen Krisen viel weniger »global« als oft angenommen wird : China zum Beispiel ist weitgehend unbeschadet aus der Finanzkrise hervorgegangen.
Die neue Normalität der anhaltenden Krise
In der Tat ist »Krise« zu einem so allgegenwärtigen und allumfassenden Merkmal unseres Lebens geworden (wenn auch natürlich mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern), dass man sich zu Recht fragen kann, ob dies nur das Ergebnis einer Reihe unglücklicher Ereignisse darstellt oder ob hier mehr im Spiel ist. Pierre Dardot und Christian Laval haben beispielsweise argumentiert, dass die Krise im Neoliberalismus zu einer »Regierungsmethode« geworden ist, bei der »jede Naturkatastrophe, jede Wirtschaftskrise, jeder militärische Konflikt und jeder Terroranschlag von neoliberalen Regierungen systematisch ausgenutzt wird, um die Umgestaltung von Volkswirtschaften, Sozialsystemen und Staatsapparaten zu radikalisieren und zu beschleunigen«.[1] Bekannter sind Naomi Kleins Worte, die in ihrem 2007 erschienenen Buch Die Schockdoktrin die Idee des »Katastrophenkapitalismus« erforschte.[2] Ihre zentrale These lautet, dass es in Momenten öffentlicher Angst und Orientierungslosigkeit leichter ist, Gesellschaften umzugestalten. Dramatische Veränderungen der bestehenden Wirtschaftsordnung, die normalerweise politisch nicht vertretbar wären, werden in rascher Folge durchgesetzt, bevor die Öffentlichkeit darauf reagieren kann.
Heute wäre es jedoch vielleicht treffender, von einem »Krisenkapitalismus« zu sprechen – wobei der westliche Kapitalismus nur funktionieren kann, indem er durch die Ausnutzung (oder Konstruktion) einer endlosen Reihe von »Krisen« einen permanenten Ausnahmezustand schafft. In einem solchen System stellt die »Krise« keine Abweichung von der Norm mehr dar ; sie ist die Norm, der grundsätzliche Ausgangspunkt für jede Politik. Dies wirft natürlich ein Paradoxon auf. In ihrem Buch Anti-Crisis stellt die Anthropologin Janet Roitman fest, dass »die Erwähnung einer Krise eine Bezugnahme auf eine Norm voraussetzt, weil sie einen vergleichenden Zustand für die Beurteilung erfordert : Krise im Vergleich zu was ?« [3] Die heutige Verwendung des Begriffs impliziert jedoch einen endlosen Zustand, in dem die Krise selbst zur Norm geworden ist. So fragt Roitman : »Kann man von einem Zustand der Dauerkrise sprechen ? Ist das nicht ein Oxymoron ?« [4]
Wir sind nicht plötzlich an diesem Punkt angelangt : Es handelte sich um einen langsamen Prozess, bei dem jede Krise dazu genutzt wurde, unsere wirtschaftlichen, sozialen, demokratischen und individuellen Rechte zu beschneiden, aber auch, und das ist vielleicht am wichtigsten, um unsere Vorstellung von »Normalität« langsam zu verändern.
Was sind nun die Hauptmerkmale dieser »neuen Normalität« der anhaltenden Krise ? In erster Linie eine allgemeine Akzeptanz der Idee, dass wir es uns nicht länger leisten können, unsere Gesellschaften um ein mehr oder weniger stabiles Geflecht von Regeln, Normen und Gesetzen herum zu organisieren ; der ständige Strom neuer Bedrohungen – Terrorismus, Krankheiten, Krieg, Naturkatastrophen – bedeutet, dass wir ständig bereit sein müssen, uns an ein sich ständig veränderndes Szenario permanenter Instabilität anzupassen. Und dass wir uns die nuancierten öffentlichen Debatten und die Komplexität der parlamentarischen Politik, die man normalerweise mit westlichen liberalen Demokratien verbindet, nicht mehr leisten können ; die Regierungen müssen in der Lage sein, Entscheidungen schnell und effizient durchzusetzen.
Dieser Zustand bedeutet auch, dass jede Form von mittelfristiger Planung, jede Vision für die Zukunft – sei es auf individueller oder kollektiver Ebene, wobei letztere historisch gesehen die Hauptantriebskraft des sozialen Fortschritts war – sinnlos ist : Bei einer permanenten Krise stecken wir in einer immerwährenden Gegenwart fest, in der alle Energien auf den Kampf gegen den »Feind« des Augenblicks konzentriert sind : Islamischer Terrorismus, finanzielle Instabilität, Klimawandel, Covid – und jetzt Russland (und China ?). Außerdem ist die Realität – so wird uns erzählt – einfach zu komplex und unvorhersehbar, als dass man hoffen könnte, sie nach irgendeiner Form von kollektivem Willen zu gestalten. Weit davon entfernt, eine rationale Antwort auf eine objektive Realität zu sein, sollte das Narrativ der permanenten Krise als eine Art der Gestaltung der Realität verstanden werden, und zwar als eines der wichtigsten Instrumente, mit denen die westlichen Eliten versucht haben, die Krise des westlich geführten neoliberalen Regimes abzusichern.
Verlorene Hegemonie
Auf nationaler Ebene hat der Neoliberalismus zu einem obszönen und ständig wachsenden Maß an Ungleichheit und Kapitalkonzentration geführt, was wiederum schwerwiegende politische Auswirkungen hat. Die Tatsache, dass eine kleine Minderheit unanständige Mengen an Reichtum anhäufen darf, führt dazu, dass sie unverhältnismäßig viel Einfluss und Macht ausüben kann, und ermöglicht es ihr, den politischen und legislativen Prozess zu kapern und Gesetze durchzusetzen, die ihre Macht und ihren Einfluss weiter zementieren. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanović schreibt, ist es umso wahrscheinlicher, dass wir uns »von der Demokratie weg in Richtung Plutokratie bewegen, je größer die Ungleichheit ist«.[5] Extreme Ungleichheit und Demokratie sind, kurz gesagt, grundlegend unvereinbar. Tatsächlich ähnelt das System, in dem wir heute leben, eher einer Plutokratie oder Korporatokratie. Diese Aushöhlung der Demokratie von innen heraus wurde durch die fortschreitende Denationalisierung der Politik noch verschärft, indem Entscheidungsbefugnisse von der nationalen und internationalen Ebene, wo die Bürger theoretisch einen gewissen Einfluss auf die Politik ausüben können, auf die supranationale Ebene übertragen wurden (die Europäische Union ist das offensichtlichste Beispiel hierfür [6]), um »den Kapitalismus gegen die Bedrohung durch die Demokratie zu impfen.« [7]
Die Oligarchisierung des westlichen Kapitalismus und der jahrzehntelange Kampf der westlichen Eliten, um die herrschende politisch-ökonomische Ordnung gegen volksdemokratische Herausforderungen abzuschirmen, führen dazu, dass der Neoliberalismus heute nicht mehr in der Lage ist, seine inhärenten polarisierenden Tendenzen zu überwinden und einen gesellschaftlichen Konsens oder eine Hegemonie (in materieller oder ideologischer Hinsicht) zu schaffen. Gleichzeitig wird die westliche Hegemonie international durch den Aufstieg neuer regionaler Mächte, allen voran China, zunehmend bedroht. Daher sind die westlichen Eliten gezwungen, auf zunehmend autoritäre, repressive und militaristische Maßnahmen zurückzugreifen – sowohl im Inland als auch im Ausland –, um an der Macht zu bleiben und jegliche Bedrohung ihrer Autorität zu unterdrücken, wie z. B. die »populistische« Gegenbewegung, die den Westen Ende der 2010er-Jahre überrollte. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines mehr oder weniger permanenten Krisenzustands, der solche Maßnahmen rechtfertigen kann bzw. eines »Krieges«, der nicht unbedingt im wörtlichen Sinne zu verstehen ist, wie wir sehen werden. Wie der niederländische Politikwissenschaftler Kees van der Pijl schreibt : »Die westlichen kapitalistischen Eliten haben die Fähigkeit verloren, ihre jeweiligen Völker in einen gerechten Gesellschaftsvertrag einzubinden und sind dazu übergegangen, Angst zu schüren […], um Proteste einzudämmen und ihre Macht zu erhalten«.[8]
Wie bereits erwähnt, ist dieser Prozess schon seit geraumer Zeit im Gange ; in vielerlei Hinsicht war der »Krieg gegen den Terror« nach dem 11. September 2001 – der zur Abschaffung der bürgerlichen Freiheiten und zu immer mächtigeren und weitreichenderen Staatsapparaten führte – eine Blaupause für dieses autoritäre Management der westlichen Gesellschaften. Die Covid-19-Pandemie und jetzt der Krieg in der Ukraine haben jedoch den Trend zu zunehmend konzentrierten, oligarchischen und autoritären Formen der Macht dramatisch beschleunigt….
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