Der französische Schriftsteller Jean Raspail (1925-2020) beschreibt in seinem Roman „Die blaue Insel“, teilweise auf der Grundlage eigenen Erlebens, eindrücklich die Stimmung in Frankreich während der ersten Monate des Zweiten Weltkrieges. Der Krieg gegen Deutschland war zwar Anfang September 1939 erklärt worden, aber fand in der Realität zunächst nur als Drôle de guerre (wörtlich übersetzt: „seltsamer Krieg“) statt: Hinter der Front, an welcher kaum Kampfhandlungen stattfanden, bestätigten sich Regierung, Medien und Volk gegenseitig in dem Bewusstsein, militärisch überlegen zu sein, die Lage im Griff zu haben und einen deutschen Angriff mit Leichtigkeit zurückschlagen zu können. Als dieser Angriff im Mai 1940 tatsächlich stattfand, brachen Armee und Staat innerhalb weniger Tage fast widerstandslos zusammen. Die wahrscheinliche Hauptursache dieses – in Frankreich sprichwörtlich gewordenen – débacle bestand darin, dass die jahrelangen und letztlich siegreichen Grabenkämpfe des Ersten Weltkrieges, etwa in der Schlacht von Verdun, bei den Franzosen ein kollektives Kriegstrauma erzeugt hatten, das es ihnen ein Vierteljahrhundert später unmöglich machte, sich einem erneuten Existenzkampf zu stellen.
Im Verhältnis Deutschlands zum Ukraine-Konflikt könnte in unseren Tagen ein Punkt sehr nahe sein, an welchem die falsche Zuversicht des Drôle de guerre mit dem großen Knall eines russischen Angriffes auf die NATO ein jähes Ende findet und in ein militärisches und politisches Debakel des Westens mündet. Vor einigen Tagen sagte der russische Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin, also ein führender Vertreter des Moskauer Regimes, wörtlich: „Die Lieferung von Angriffswaffen an das Kiewer Regime führt zu einer globalen Katastrophe.“ Wolodin bezog sich damit nicht nur auf die Lieferung deutscher „Leopard”-Panzer an die Ukraine, die nach einem langen innenpolitischen Eiertanz jetzt beschlossene Sache ist, sondern auch auf die anscheinend bevorstehende Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte mit sogenannten GLSDB-Gleitbomben und weiteren US-amerikanischen Raketen, mit denen die Ukrainer Ziele weit hinter der Front und unter Umständen sogar auf dem Territorium der Russischen Föderation attackieren könnten.
Ignorierte „rote Linien“
Bemerkenswert ist weniger Wolodins Äußerung selbst als vielmehr die Art und Weise, wie sie in der deutschen Öffentlichkeit aufgenommen wird. Die völlig realistische Drohung mit einem nuklearen Vernichtungskrieg, gekoppelt an eine „rote Linie“, die in der unmittelbaren Gegenwart sichtbar überschritten wird, führt weder zu berechtigter Angst noch zu einer konkreten Antwort auf dem Feld der Diplomatie, sondern wird schlicht und ergreifend nicht ernstgenommen. Dem Überlebenswillen der bundesdeutschen Bevölkerung stellt dies ein schlechtes Zeugnis aus. Während die letzten „Zeugen Coronas“ immer noch unter freiem Himmel mit Masken umherlaufen, spielt die reale Gefahr des Unterganges im nuklearen Inferno offenbar im Gefühlsleben der meisten Menschen keine Rolle….
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