Desmet klärt hier sehr strukturiert auf über das Phänomen der Massenformation, den Unterschied zwischen Diktatur und totalitären Herrschaftssystemen, und worin die Achillesferse speziell bei Systemen totalitärer Herrschaft besteht: Unter anderem, dass sie durch ihren inhärent kultischen Charakter nicht mit Logik angreifbar sind, dafür aber den Vorteil haben, selbstzerstörend zu sein und in der Regel nicht so lange anzudauern wie klassische Diktaturen.
Er beschreibt historische Beispiele wie den „Archipel Gulag“ aus dem gleichnamigen, preisgekrönten Werk von Solschenizyn, als Beispiel dafür, wie es Menschen unter extrem dehumanisierenden Bedingungen trotzdem möglich war, ihre Menschlichkeit zu bewahren – und dieses Bewahren der eigenen Menschlichkeit entscheidend war für die Bildung von „Bruchstellen“ in jenen Systemen, die schließlich zu ihrem Ende führten.
Schließlich beschreibt er auf brillante Weise das Konzept des „transrationalen Verstehens“ – nein, nicht transhuman, transrational – eine Ebene des Verstehens, die der rationalen Ebene übergeordnet ist, und zu der alle ursprünglich rein rational arbeitenden Spitzen der Forschungsgeschichte, von Heisenberg über Einstein bis Bohr, schlussendlich gekommen sind.
Das Gegenteil von „demoralisierend“ wäre „moralisierend“, was aber als Beschreibung für dieses fantastische Interview nicht ganz zuträfe: Die Ausführungen von Desmet entsprechen zwar dem Gegenteil von „demoralisierend“, ohne aber in irgendeiner Form „moralisierend“ daherzukommen: besser träfe es wohl der Begriff „erbaulich“. Er ermutigt uns, unter allen, noch so widrigen Lebensumständen Prinzipien von Menschlichkeit und Respekt vor der Menschenwürde hochzuhalten, ohne dabei jemanden belehren zu wollen. Dies mache DEN entscheidenden Unterschied aus, um Systeme totalitärer Herrschaft seelisch unbeschadet zu überstehen, und diese schlussendlich zu einem Ende zu bringen.
Prädikat: Sehr sehenswert.
Zum Interview mit Mattias Desmet bei Marc Friedrich: